- Medizinnobelpreis 1957: Daniel Bovet
- Medizinnobelpreis 1957: Daniel BovetDer italienische Pharmakologe schweizerischer Herkunft entdeckte Neurotransmitterantagonisten und synthetische Antihistaminika.Daniel Bovet, * Neuenburg (Schweiz) 23. 3. 1907, ✝ Rom 8. 4. 1992; Studium in Genf; 1929-47 Professor und Direktor am Pasteur-Institut in Paris, anschließend baute er in Rom das Labor für Therapeutische Chemie am staatlichen Gesundheitsamt in Rom auf, ab 1964 auch Dozent an der Universität Sassari und später in Rom; klärte den Wirkungsmechanismus der Sulfonamide.Würdigung der preisgekrönten LeistungDas vegetative Nervensystem ist 1801 von dem französischen Anatom Marie François Bichat (1771-1802) beschrieben worden, der es vom animalischen Nervensystem unterschied, da er vermutete, dass Ganglien anstelle des Gehirns die vegetativ innervierten Organe steuern. 1904 unterschied es der englische Physiologe John Langley (1852-1925) aus anatomischen und physiologischen Gründen in einen peripheren sympathischen und einen peripheren parasympathischen Anteil. Fast alle Organe der Eingeweide werden sowohl vom Sympathikus als auch vom Parasympathikus versorgt und antagonistisch gesteuert.Bis zu den Arbeiten der Physiologen Otto Loewi und Henry Dale (gemeinsam Nobelpreis 1936) ging man davon aus, dass die Nervenreize zu den Organen gelangen, wie elektrische Signale über Telegrafenleitungen einen Empfänger erreichen. Die Forscher konnten jedoch zeigen, dass die Impulse kleine Mengen hochaktiver Signalsubstanzen an den Nervenendigungen freisetzen. Im Sympathikus erfolgt die Impulsübertragung durch das Freisetzen von Noradrenalin, im Parasympathikus durch Acetylcholin. Sie werden in ihrem jeweiligen Nervensystem synthetisiert, in Vesikeln gespeichert und durch ein eintreffendes Aktionspotenzial freigesetzt.Das Phospholipid Acetylcholin war 1914 von Dale aus Mutterkorn isoliert worden. Der schwedische Physiologe Ulf von Euler-Chelpin (Nobelpreis 1970) hatte das Noradrenalin in der Nebennierenrinde entdeckt. Es wirkt nicht nur als Neurotransmitter, sondern über die Blutbahn auch als Hormon und zählt wie das 1901 von dem japanisch-amerikanischen Chemiker Jokichi Takamine ebenfalls aus der Nebennierenrinde isolierte Adrenalin zu den biogenen Aminen. Diese durch Abspaltung von Kohlendioxid aus Aminosäuren entstehende Stoffklasse zeichnet sich durch vielfältige pharmakologische Wirkungen aus.Das immer bessere Verständnis chemischer Neurotransmitter hat einen ganz neuen Forschungszweig entstehen lassen. Pharmakologen und Chemiker konnten nun nach Substanzen suchen, die solche Stoffe aufbauen oder inhibieren, das heißt, ihre Wirkung blockieren. Es wurde auf einmal möglich, in physiologische Vorgänge und sogar in pathologische Prozesse einzugreifen. Daniel Bovet konzentrierte seine Arbeit auf die Aufklärung der pharmakologischen Blockade. Es gelang ihm, Verbindungen herzustellen, die ganz spezifisch die Wirkung von Neurotransmittern blockieren.Analyse des Pfeilgifts CurareVerbindungen, die die Weiterleitung von Nervenimpulsen blockieren, sind lange bekannt. Schon die venezianischen Damen des 16. Jahrhunderts pflegten ihre verführerische Wirkung zu steigern, indem sie die Augen in einer Lotion aus Belladonna badeten. Belladonna, ein Extrakt aus Kirschen der Tollkirsche (Atropa belladonna), enthält das Alkaloid Atropin. Es blockiert die Wirkung des Acetylcholins, das aus den Nervenendigungen der Muskulatur der Iris austritt. Die Nervenimpulse verpuffen, die Muskeln erschlaffen und die Pupillen weiten sich.Bovet wurde vor allem für seine Analyse des Pfeilgifts Curare berühmt. Die Indianer des Amazonas- und Orinocogebiets verwenden das aus verschiedenen Strychnos- und Chondodendronarten gewonnene Curare, ein Gemisch mehrerer Alkaloide, vor allem für die Jagd. Sie tauchen die Pfeilspitzen in das Gift und lähmen ihre Beute damit. Da Curare sehr schlecht aus dem Magen-Darm-Trakt aufgenommen wird, kann das erlegte Wild gefahrlos verzehrt werden. Die Wirkungsweise des Curare hatte 1857 der französische Physiologe Claude Bernard am Frosch demonstriert.Im Körper bewirkt es, genau wie das Atropin, die Blockade des Neurotransmitters Acetylcholin, der die motorischen Nerven mit den Muskelfasern verbindet. Bovet studierte nun an Versuchstieren den Zusammenhang zwischen der chemischen Struktur der Curarealkaloide und ihrer biologischen Wirkung. Er ging dabei sehr systematisch vor. In jahrelangen Experimenten synthetisierte er hunderte von Verbindungen, die er mit neu entwickelten biologischen Testmethoden überprüfte. Durch die systematische Veränderung der chemischen Strukturen seiner Neusynthesen erreichte er immer einfachere chemische Verbindungen, die spezifisch und ohne große Nebenwirkungen die Muskulatur lähmen. Sie erwiesen sich für den klinischen Einsatz als wesentlich geeigneter als die Alkaloide aus der Natur.Fortschritte im Bereich der NarkoseWirkstoffe, die die Muskulatur lähmen, waren in den 1950er-Jahren von großem Interesse, da die Chirurgie immer kompliziertere Operationen durchführte. Manche Eingriffe erforderten eine vollkommene Erschlaffung der Muskeln. Voraussetzung für den Einsatz von Curareverbindungen wie dem Tubocurarin war die von Bovet unter anderem geleistete Standardisierung und pharmakologische Testung der Wirkstoffe. In Verbindung mit weiterentwickelten Narkosegeräten und Techniken der Intubation für eine künstliche Beatmung schafften es Bovets Verbindungen, das Risiko einer Narkose zu verringern, da für das Ausschalten des Schmerzempfindens und des Bewusstseins niedrigere Konzentrationen der Narkotika genügten als für das Erschlaffen der Muskulatur. Da das Tubocurarin und andere quartäre Ammoniumverbindungen die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden können, führen sie nicht zu Bewusstlosigkeit.Mutterkorn und LSDGleichzeitig mit der wegweisenden Analyse der Alkaloide des Curare untersuchte Bovet die Mutterkornalkaloide. Mutterkorn (Secale cornutum) ist das harte Pilzmyzel von Claviceps purpurea, das vor allem in Roggenähren vorkommt. In vergangenen Jahrhunderten kam es mitunter zu Massenvergiftungen durch Mutterkorn im Getreide, da die Alkaloide, die sich von der Lysergsäure ableiten, giftig sind. Die Mutterkornalkaloide werden heute in der Medizin sehr vielfältig eingesetzt. Neben dem wichtigen Werk der experimentellen Neuropharmakologie hat Bovet auch in der Psychopharmakologie geforscht. Er suchte nach Drogen, die direkt auf die Gehirnfunktionen einwirken. Es gibt bereits zahlreiche Verbindungen dieses Typs. Lysergsäure, eine der aktiven Substanzen des Mutterkorns, ist von dem amerikanischen Chemiker Robert Burns Woodward (Chemienobelpreis 1965) synthetisiert worden. Das nah verwandte Lysergsäurediethylamid (LSD) ist ein starkes Halluzinogen.Aus Mutterkorn hatte Dale 1910 auch das biogene Amin Histamin isoliert, das bei allergischen Reaktionen in großen Mengen freigesetzt wird. Die wohlbekannten Symptome wie Heuschnupfen, Ekzeme oder Asthma treten in Abhängigkeit vom Ort der Histaminproduktion auf. Bovets Arbeitsgruppe gelang es 1937 mit dem Thymoxidiethylamin, das erste Antihistamin herzustellen. Der Wirkstoff konnte im Tierversuch den anaphylaktischen Schock verhindern. Für den klinischen Einsatz erwies es sich allerdings als zu toxisch. Doch viele Histaminantagonisten, die gegen Allergien eingesetzt werden, stammen davon ab. Denn sie wirken außerdem antiallergisch, gefäßabdichtend und juckreizstillend.U. Schulte
Universal-Lexikon. 2012.